Grundsätzlich sollte ein umfassendes Modell zum gemeinsamen Entscheiden ja unabhängig sein von der Bewertungsmethode. Warum haben wir uns trotzdem entschieden in VREDE vor allem auf widerstandsbasierten Methoden aufzubauen.
Erstens gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Gruppenentscheidungen und Einzelentscheidungen: Bei individuellen Entscheidungen fokussiert die Entscheider*in meist auf den inneren Zuspruch, die größere Begeisterung und Freude an der jeweiligen Alternative. Bei individuellen Entscheidungen kommen daher die Vorschläge, die mit hohem Widerstand versehen sind, meist gar nicht ins Bewusstsein. In Gruppenentscheidungen muss ich mich jedoch auch mit Vorschlägen auseinandersetzen, gegen die ich einen hohen Widerstand erlebe. Daher wird es bei Gruppenentscheidungen – neben Zusprüchen – immer auch Einwände gegen Vorschläge geben. Wenn diese nicht berücksichtigt werden, können sie zu Sand im Getriebe werden. Bei Gruppenentscheidungen ist daher die Frage nach Widerstand oder Einwänden die Basis für eine tragfähige Entscheidung, auf der dann aufgebaut werden kann (vgl. zB Visotschnig 2019).
Zweitens sind Konflikte gekennzeichnet durch einander ausschließende Handlungsoptionen (Glasl 1980). In diesem Sinn ist jede Gruppenentscheidung auch eine Konfliktbearbeitung. Durch die Verwendung widerstandsbasierter Methoden für Gruppenentscheidungen wird das Konfliktpotenzial sichtbar gemacht. Minimiert wird es durch die Haltung meines JAs zu deinem NEIN. Denn nach Fritz Simon (2001) entsteht der Konflikt systemtheoretisch aus dem verneinten NEIN. Methoden der widerstandsbasierten Gruppenentscheidung sind damit sowohl Formen der Konfliktbearbeitung als auch komplementär dazu.
Eine dritte Begründung für widerstandsbasierte Entscheidungen liegt auf neurologischer Ebene: Menschliche Entscheidungen werden sozial-emotional-intelligent getroffen und folgen einer zweidimensionalen Logik: hin-zu und weg-von. Wir reagieren – affektiv gesteuert – mit Zuspruch und mit Ablehnung. Dies wird im Nervensystem unabhängig voneinander verarbeitet. Zuspruch und Ablehnung sind also um zwei voneinander unabhängige Dimensionen, quasi zwei verschiedene Achsen: Es kann zugleich hohen Widerstand und hohe Zustimmung geben. Gedämpfte Ablehnung (Widerstand) können Menschen besser kontextualisieren, also in Bezug zur gesamten Lebenserfahrung setzen (Kuhl 2001).
Dies erklärt auch den Unterschied zwischen einem Kompromiss und einer – mit widerstandsbasierten Methoden systemisch herbeigeführten – Annäherung an den Konsens. Die Parteien geben beim Kompromiss immer mehr von ihren ursprünglichen Ideen auf, bis letztlich weder die Visionen der einen noch der anderen mehr enthalten sind. Der Kompromiss ist oft nur ein relativ schaler Abklatsch dessen, was die Parteien ursprünglich wollten. Bei einer Annäherung an den Konsens, wie er mit SK oder soziokratischen Methoden erzielt wird, führt die Frage nach den Widerständen zur Integration der Einwände und kreativen Entwicklung neuer Vorsschläge. Dadurch wird die Kreativität gefördert, es entstehen neue Ideen und innovativere Lösungen.
Aus all diesen Gründen ist es naheliegend und sinnvoll, die Bewertung von Vorschlägen nach dem Widerstand durchzuführen, den sie hervorrufen. Dabei bauen wir auf folgenden Modellen und Werkzeugen auf:
Systemisches Konsensieren
Systemisches Konsensieren (SK) ist eine Entscheidungsmethode für Gruppen, die hilft, diejenige Lösung zu identifizieren, die den geringsten Gesamtwiderstand und damit die höchste Akzeptanz innerhalb der Gruppe aufweist. Damit umgeht das Systemische Konsensieren manche Nachteile mehrheitsbasierter Entscheidungsmethoden. Die Transparenz der Widerstände bewirkt, dass die Beteiligten die Einwände der anderen in ihren Vorschlägen berücksichtigen, und damit führt es zu einer systemischen Verhaltensänderung. Dadurch werden neue, häufig auch innovative Lösungen gefunden, die sich dann durch hohe Tragfähigkeit auszeichnen.
Acceptify
Das Tool, auf dem wir bei VREDE aufbauen ist acceptify (www.acceptify.at). Es bildet die Sammlung von Vorschlägen und deren Bewertung mittels Systemischem Konsensieren ab. Allerdings umfasst dieses Werkzeug nur einen engen Ausschnitt des Entscheidungsprozesses, nämlich die Erstellung und Bewertung der Vorschläge. Die Qualität der Prozesse hängt damit sehr von den Fähigkeiten der Moderator:innen und ihrem Bewusstsein für Gruppen ab.
Soziokratische Kreismethode
Soziokratie wurde in den 1960er-Jahren in den Niederlanden entwickelt und basiert auf der gleichwertigen, wertschätzenden und nicht-hierarchischen Stellung aller Gruppenmitglieder. Die Soziokratische Kreismethode (SKM) ist eines der Elemente der soziokratischen Methodensammlung für die Moderation von Entscheidungsprozesse von Gruppen (Strauch 2018).
Beide Methoden, Systemisches Konsensieren und SKM sind widerstandsbasiert. In der SKM spricht man von „Konsent“. Das bedeutet: Niemand hat einen schwerwiegenden Einwand gegen einen Vorschlag. Gibt es einen schwerwiegenden Einwand gegenüber einer Entscheidungsalternative, so führt dies in der Soziokratie zu einem Veto.
Warum genügen uns diese Elemente nicht?
Widerstandsbasierte Methoden haben aufgrund der systemischen Wirkung ein hohes Potenzial, in gemeinsamen Entscheidungsprozessen tragfähige Lösungen zu erzielen. Sie setzen aber immer bestimmte Grundannahmen und bestimmte Übereinkünfte voraus; die Kontexte gemeinsam zu treffender Entscheidungen sind aber wesentlich diverser und entsprechen nicht immer diesen Strukturmerkmalen. Wir arbeiten im Projekt VREDE an einem Modell, das flexibel in möglichst unterschiedlichen Kontexten anwendbar ist.
Moderation bedeutet immer Entscheidungen zu treffen, und reduziert damit den Einfluss der Gruppe. Das ist hilfreich, führt aber auch immer wieder zu Konflikten. Im VREDE-Phasenmodell versuchen wir viele notwendigen Entscheidungen der Moderation wieder partizipativ einzufangen.